Sonias Reise - erzählt von Ina

30.06.2023 | Aktuelles

Im April 2021 habe ich als ehrenamtliche Helferin bei den Fellgesichtern angefangen. Zwei Monate später stand für mich die erste Transport-Tour an: ich sollte die Hunde abholen, die für unseren Verein aus Polen ausreisen konnten. Einer davon war Sonia. Die benötigten Transportboxen waren schnell zusammengestellt. „Sonia ist groß!“ hieß es noch, also musste es auch eine entsprechende Box sein. Es war ein sommerlicher Tag, ich war ein bisschen aufgeregt. Bloß nichts vergessen, an die Papiere denken und vor allem die richtigen Hunde mitnehmen, eine Verwechslung wäre nicht gut. Mit vielen erfahrenen Helfern vor Ort klappte alles prima. Sonia war so verängstigt, dass sie ihre langen Beine unter sich faltete und sich in die Ecke ihrer Box drückte. So hätte sie tatsächlich fast in einen Schuhkarton gepasst. Die große Box wirkte völlig überdimensioniert.

Wieder beim Verein angekommen, wurden die Boxen aus dem Auto geholt und die Hunde durften im gesicherten Umfeld endlich aussteigen. Dieser Moment ist immer irgendwie besonders. Die Hunde sind natürlich erschöpft von der langen Fahrt, aber es ist trotzdem schön zu sehen, wie sie aus den Transportboxen kommen und sich in ihrer neuen Umgebung umsehen.


Sonia war da anders. Sie kauerte sich sofort in eine Ecke, wo sie niemand sehen konnte. Dort blieb sie ganze zwei Tage einfach liegen. Sie traute sich in dieser Zeit nicht, ihr Geschäft zu machen, und an Fressen war gar nicht zu denken. Sie versuchte, sich unsichtbar zu machen. Von Aggression nicht die geringste Spur, aber sie war vollständig in sich gefangen. Wir ließen sie einfach in Ruhe und gaben ihr Zeit. Der Hunger sorgte dafür, dass sie doch endlich etwas fressen wollte – aber es durfte niemand zugucken. Sie lief auch in den Garten, war aber wie ein verhuschter Schatten. Sie konnte unsere Aufmerksamkeit nicht ertragen und wollte um jeden Preis vermeiden, gesehen zu werden.


Es dauerte sehr lange, bis Sonia ein bisschen auftaute. Schließlich konnte sie auch in unserer Anwesenheit fressen, fing an, mit den anderen Hunden herumzualbern, und als sie das erste Mal ein Leckerli nahm, das wir ihr zuwarfen, war das ein absoluter Meilenstein. Der nächste wurde markiert, als sie endlich auch aus der Hand Futter nehmen konnte. Immer mal wieder legten wir ihr auch eine Leine an, um sie daran zu gewöhnen. Aber an normales Laufen war nicht zu denken. Sie blieb entweder liegen oder versuchte weg zu springen.

Andere Hunde kamen und zogen in ihre neuen Familien – es waren auch ängstliche dabei, mit denen wir viel trainiert haben, aber keiner brauchte so viel Zeit wie Sonia. In winzig kleinen Schritten konnte man aber merken, dass sie immer mehr auftaute. Wir Menschen waren gar nicht mehr so schrecklich, im Gegenteil. Sie freute sich zum Beispiel tatsächlich, wenn ich kam! Erst wurde ihr Blick immer offener. Mit der Zeit entwickelte sich sogar ein kleines Spiel zwischen uns. Ich lockte sie zu meiner ausgestreckten Hand, sie kam näher mit ihrer Nase, stupste und hüpfte dann fröhlich weg. Wir konnten miteinander albern sein, das war ein so schönes Gefühl. Auch ein kurzes Streicheln konnte sie manchmal zulassen. Ganz geheuer war es ihr nicht, wahrscheinlich war sie über ihre eigene Courage ein bisschen erschrocken, aber sie konnte es genießen.


Aber dabei sollte es natürlich nicht bleiben. Sonia soll kein Dauergast werden, sondern eine liebe Familie finden. Ihre Schwester wurde vor meiner Zeit als Helferin über unseren Verein vermittelt, sie besucht seit Jahren die Hundeschule und führt ein ganz normales Leben. Wir mussten also versuchen, mit Sonia einen Schritt weiterzugehen. Wenn ihr etwas nicht geheuer ist, wendet sie immer noch die gleiche Taktik an wie damals: hinkauern und sich unsichtbar machen.

Es ist kein Vergnügen, einen Hund anzufassen, dem das offensichtlich solches Unbehagen bereitet. Aber dieser Punkt musste irgendwie überwunden werden. Sonia lernte, dass die Welt nicht unterging, wenn man ein Geschirr trug. Sie ging auch dann nicht unter, wenn eine Leine daran befestigt wurde und man ein paar Schritte machte. Das klappte langsam immer besser. „Leine ab“ nach dem Üben war für Sonia auch nicht gleichbedeutend mit Flucht. Sie blieb noch ein bisschen stehen und ließ sich streicheln. Erst wenn man damit aufhörte, ging sie ihres Weges. Den anderen Hunden hatte sie dann viel zu erzählen.


Es wurde Zeit für den nächsten Meilenstein: raus aus dem Garten in die große weite Welt. Diese bestand im ersten Schritt aus unserem Hof. Sonia ist nun fast zwei Jahre bei uns, sie kannte nur den Hunderaum und den Garten. Plötzlich diesen Garten zu verlassen und eine völlig neue Umgebung zu sehen war eine absolut aufregende Aktion. Allein das offenstehende Tor veränderte alles. Auf den eigenen Pfoten dort durchzulaufen bedeutete völlige Überforderung. Wir mussten sie tragen. Nun lag sie da im Gras und war erst wie versteinert, doch sie genoss unsere Streicheleinheiten und nahm auch Futter an. Der Stresspegel war somit überschaubar. Sie konnte sogar selbstständig in den Garten zurücklaufen. Wir freuten uns wahnsinnig über diesen Fortschritt.

Über Wochen und mit vielen Pausen von mehreren Tagen ging es so voran. Immer ein Stück weiter. Sonia schaute plötzlich erwartungsvoll, wenn wir mit einem Geschirr in der Hand den Raum betraten, und war regelrecht enttäuscht, wenn ein anderer Hund angezogen wurde. Man konnte merken: sie wollte mehr.

Im Vergleich zu den Monaten davor geht es nun rasend schnell. Sonia ist wie ausgewechselt. Sie läuft plötzlich mit uns über den Hof, als wäre es völlig selbstverständlich. Und jedes Mal trägt sie die Rute ein Stück höher. Sie wird gleich wieder abgesenkt, wenn man mit ihr eine unbekannte Strecke läuft. Aber sie ist aufmerksam, schnüffelt, hat einfach Lust auf den nächsten Schritt. Sie kann sich beim Streicheln völlig entspannen und genießt diese Zuwendung so sehr.


Für mich ist Sonia ein Hund, den ich wohl niemals vergessen werde. Ich konnte ihre Entwicklung von Anfang an begleiten, und wir haben irgendwie einen besonderen Draht zueinander. Wenn ich an das zusammengekauerte schwarze Bündel von damals zurückdenke, bin ich einfach unfassbar stolz, wie weit sie es nun geschafft hat. Wenn es so weiter geht, können wir bald an eine Vermittlung denken. Was sie wohl erlebt hat, dass sie und ihre Geschwister so traumatisiert hat, habe ich mich zwar gefragt, aber dieser Gedanke hilft ihr nicht. Es spielt auch eigentlich keine Rolle. Ganz vergessen wird sie es wohl nicht, aber sie ist auf dem besten Weg, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Ich male mir für sie eine äußerst fröhliche Zukunft aus. Denn das ist Sonia nun: eine fröhliche, freche und temperamentvolle Hündin, die auf ihren langen Beinen durchs Leben hüpft.